Driven: Audi RS6 Avant

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Widerwillig reiche ich dem Audi-Mann an der Startlinie meinen letzten „Rennstrecken-Coupon“. Bevor er zugreifen kann, ziehe ich meine Hand zurück. Nein, ich will nicht zu meiner letzten Runde aufbrechen. Nicht jetzt, wo ich gerade den Streckenverlauf in mich aufgenommen habe, die 422mm-Keramik-Bremsen und der galaktisch-geile Fünfliter-Bi-Turbo-V10 warmgelaufen sind. Ich will fahren, das Pedal Runde um Runde aufs Blech nageln und mich von den brutalen 580 PS durchs Gemüse schießen lassen. Auf der Geraden rennt der dicke Kombi bis 230, dann kommt der Keramik-Anker und ich werde in den Gurt gepresst. Es ist herrlich! Doch der Reihe nach…

Wir sind in Frankreich, genauer gesagt in Le Castellet. Neben der Saison ist hier nicht wirklich viel los, doch das interessiert heute wirklich niemanden. Zusammen mit einigen Dutzend weiteren deutschen Motorjournalisten bin ich zusammen mit Tim angereist, um auf der nahe gelegenen Rennstrecke Paul Ricard dem neuen Audi RS6 Avant auf den Zahn zu fühlen. Hier kurz die Eckdaten: Unter der Haube steckt der aus S6 und S8 bekannte V10, der mittels zweier Abgasturbolader im RS6 allerdings zwangsbeatmet wird. Mit bis zu 0,7 bar drücken die beiden Verdichter die Luft in die Brennräume. Leistete der Motor im S8 bisher immerhin 450 PS, geht’s im RS6 rauf auf 580 PS und damit um 73 PS am BMW M5 Touring vorbei. Dem hat der Audi außerdem den Allradantrieb voraus, der die 650 Newtonmeter Drehmoment konsequent in Vortrieb umsetzt. Ach was red ich, der quattro krallt sich in den Asphalt und lässt nicht mehr los. In 4,6 Sekunden geht’s bis 100, nach nur 14,9 Sekunden liegen 200 Sachen an.

In der Praxis sieht das so aus: Der Wahlhebel der Sechsgang-Automatik kommt auf „S“, der Fuß wechselt vom Brems- aufs Gaspedal und nagelt das Dingelchen nach unten. Einige Sekündchen später flutscht die 65 vorbei und der zweite Gang knallt rein, eh man sich’s versieht stehen 120 an und der Dritte rutscht nach. Den kann man dann eigentlich drin lassen, denn er reicht bis über 180 und macht auf Landstraßen derbe Laune. Runtergeschaltet wird nur, um das Zwischengas und das Einrasten der Gänge zu genießen. Untermalt wird das ganze von einer herzzerreißenden Klangkulisse. Allerdings nicht im Cockpit. Hier ist so gut wie nichts vom Monster unter der Haube oder den Armdicken Endrohren zu hören. Schade eigentlich. Selbst unter Volllast dringt nur ein leises Fauchen zu den Insassen. Was bleibt sind Tunneldurchfahrten bei geöffnetem Fenster. Runter in den Zweiten und durchbeschleunigen … Die anderen Autofahrer werden euch nicht verstehen, aber für einen RS6-Piloten offenbart sich erst hier die Urgewalt seines Kombis. Tim und ich konnten uns den Spaß jedenfalls nicht verkneifen und noch immer kommen wir ins Schwärmen, wenn wir daran zurückdenken. Zurückfallen lassen, Vollgas, Bremsen, zurückfallen lassen, Vollgas …

Ähnlich dem gedämpften Sound im Innenraum verhält es sich dort auch in Sachen Sportlichkeit. Das Serienmäßige Gestühl ist wohl eher für schnelle Autobahnetappen ausgelegt, denn zur wilden Kurvenhatz gedacht. Und die zur Wahl stehenden Klavierlack-Applikationen passen meiner Meinung nach mehr in einen A8 W12 als in dieses wundervolle V10-Monster. Doch das sind Kleinigkeiten, in Anbetracht des ansonsten perfekten Cockpits. Reinsetzten, losfahren. Das Lenkrad liegt super in der Hand – nur ein Alcantara-Bezug fehlt – die Schaltpaddels drehen sich glücklicherweise mit, alle Schalter sind da, wo man sie erwartet und die hohe Qualitätsanmutung ist über jeden Verdacht erhaben. Verdammt, man will aus dem Ding echt nicht mehr aussteigen. Spitze!

Um nun nicht in überschwängliche Lobgesänge auszubrechen hier noch einige kleine Kritikpunkte. Erstens: 106.900 Euro? Für einen Kombi? Auaaaaa. Das ist viel Geld. Da kostet ein M5 Touring mal eben 11.900 Euro weniger, und selbst ein Waschechter Sportwagen vom Schlage eines Porsche 911 GT3 kostet nur unwesentlich mehr (112.544 Euro). Zweitens: Wenn ein Kombi schon so viel Power und Potenz hat, dann sollte man das seinen Mitmenschen auch zeigen können. Gut, die Backen sind etwas breiter als beim S6 und auch Front- und Heckschürze unterscheiden den RS6 vom braven Audi, trotzdem… Wir hätten uns etwas mehr RS4-Flair gewünscht.

Kommen wir zum Resümee des neuen Leitwolfs im Revier: Dieses Automobil ist die Krönung unter den Power-Kombis. Nicht nur wegen der 580 PS, sonder vor allem wegen der sagenhaften Tiptronic und des bestialischen Sounds, der eines jeden Sportwagens würdig ist. Wenn Geld also nicht alles ist und der Porsche wegen Sitzplatzmangels nicht in Frage kommt, dann ist der RS6 definitiv die ultimative Alternative. Und wem die kastrierten 250 km/h Topspeed nicht reichen, der kann sich gegen eine Aufpreis die Semmel auch bis 280 freischalten lassen (Preis noch nicht bekannt).

Technische Daten
Leistungsgewicht: 3,5 kg/PS
Motor: V10-Bi-Turbo
Lage:  vorn längs
Hubraum:  4991 ccm
PS bei U/min:  580 / 6250-6700
Nm bei U/min:  650 / 1500-6250
0-100 km/h: 4,6 sek
0-200 km/h: 14,9 sek
Topspeed: 250 km/h (gegen Aufpreis: 280 km/h)
Antrieb:  Allrad
Bremsen (vorne):  Scheiben (gelocht/innenbelüftet), 390 mm, Sechskolben Bremssättel
Bremsen (hinten):  Scheiben (gelocht/innenbelüftet), 356 mm, Einkolben Schwimmsättel
gegen Aufpreis: 422 mm Keramik-Bremsscheiben (hinten: 356 mm)
Maße in mm (Länge/Breite/Höhe): 4928 / 1889 / 1460
Leergewicht:  2025 kg
Verbrauch:  14,0 Liter im Mix (Super)
Preis: 106.900 Euro